Laudatio

von Horst Dieter Bürkle


Das ist beileibe nicht die erste Ausstellung, die ich eröffne. Aber es ist tatsächlich die erste Ausstellung, bei der ich gleich zu Beginn feststellen sollte, dass das Sujet der Ausstellung - auch wenn es Ihnen zunächst so vorkommt - absolut nichts Neues darstellt. Das mag in einer Laudatio - die ja eine Lobrede sein soll - zunächst befremdlich klingen, ist es aber auch wirklich nur auf den allerersten Blick.

Lassen Sie mich dazu ein bißchen ausholen: Werner Kumpf, um dessen Bilder es hier ja geht, macht mit Hilfe der Fotografie so genannte 360°-Panoramen. Das klingt doch irgendwie gut und keineswegs abgedroschen. Ein rascher Blick ins Internet belehrt uns dagegen eines Besseren: Ahnen Sie, wieviele Webseiten aufgerufen werden, wenn Sie bei einer Suchmaschine das Stichwort 360°-Panoramen eingeben? 10, 100, 1.000 oder 10.000 ??? Ich sag’s Ihnen: Wenn Sie im Gesamtweb suchen, bekommen Sie rund 780.000 Treffer. Und selbst wenn Sie lediglich im deutschsprachigen Raum suchen, ist man in der Lage, Ihnen noch sage und schreibe 292.000 Webseiten vor Augen zu führen!

Tatsache ist, dass es 360°-Panoramen gibt wie Sand am Meer. Von Hintertupfing bis New York, von Amorbach bis Neuseeland - nahezu jeder hat seine 360°-Panoramen im Internet stehen. Bei »www-aufschalke2006.de« gibt’s appetitmachende Panoramen vom »Arenaring am Eingang West« über die »Ehrentribüne« bis hin zur «Tribüne Oberrang im Block 24«. Usw. usw. usw.

Spätestens an der Stelle meiner Erkundungen angelangt, war dann allerdings auch meine Neugier geweckt, herauszufinden, was denn ein Thema wie diese 360°-Panoramen dermaßen interessant macht, dass heutzutage Hunderttausende von Menschen sich bemüßigt fühlen, sich in irgendeiner Form damit zu befassen oder sie zumindest derart gerne herzuzeigen!

Lassen Sie mich dazu ein wenig auf die Geschichte der Panoramen eingehen. Entgegen der landläufigen Ansicht beginnt sie nicht mit der Äußerung eines namentlich unbekannten sächsischen Reisenden, der bei einem Aufenthalt an der Ostsee angesichts eines Sonnenuntergangs gesagt haben soll: Und nu im Hindergrund noch die bairischen Bersche, das wär e Banorama, da gönnd mern Hut abnähmn!

Richtig ist vielmehr, das die Geschichte gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann, als der aus Irland stammende Porträt- und Miniaturmaler Robert Barker bei einem Spaziergang oberhalb Edinburghs die ganze Stadt vor seinen Füßen liegen sah und ihm der Gedanke kam, die herrliche Aussicht in einem Rundumbild festzuhalten.

Robert Barker ließ sich diese seine Idee patentieren und hat sie bis ins Detail ausformuliert. Er selbst sprach übrigens noch gar nicht von Panoramen, sondern nannte das Ganze bei seiner damaligen Patentanmeldung in London »Die Natur auf einen Blick«. Erst im Januar 1872 (fast 100 Jahre nach der „Erfindung“) prägte die Londoner »Times« in einer Ankündigung den Begriff, indem sie - zusammengesetzt aus dem griechischen pan für alles, und hórama für das Geschaute - das Kunstwort Panorama, sprich »Allansicht« geschaffen hat.

Jedenfalls war das Panorama, ob man es nun schon so nannte oder nicht, eine künstlerische und technische Innovation ersten Ranges und geriet zu einer völlig neuen Kunstform. Anfänglich noch bezogen auf runde Gebäude, so genannte Rotunden, in denen auf der Innenseite des kreisförmigen Raums ein Bild angebracht war, das damals - lange vor der Fotografie - natürlich noch ein Gemälde gewesen ist. Die Bilder sollten so lebensecht wirken, dass sie mit der Realität verwechselt werden konnten. Über Gänge und Treppen, die abgedunkelt waren, traten die Besucher auf eine Plattform. Neben der Darstellung damaliger Weltstädte zeigte man vielfach Schlachten- und Kriegsbilder. Später folgten Darstellungen historischer Stätten mit getreulich rekonstruierten Einblicken in historische Ereignisse und Landschaftsbilder vom näheren Europa bis zu den fernen Kolonien.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die Panoramen zu einer Massenunterhaltungs sondersgleichen. Später unterschied man stationäre und mobile Panoramen; mit der Erstellung und deren Transport entwickelte sich eine regelrechte Industrie. Es gab Aktiengesellschaften, die eigens zum Zweck der Erstellung, dem Vertrieb, dem Transport und der Reklame zur internationalen Nutzung von Panoramen gegründet worden sind. Im Grunde genommen hatte man es zu tun mit einer Art statischem Kino lange vor der Erfindung des wirklichen Kinos, das den Sturmlauf der Panoramen letztlich dann auch mehr oder minder zum Stehen gebracht hat.

Das Alles aber erklärt im Grunde aber immer noch nicht die Faszination, die auch im 21. Jahrhundert noch von diesen »All-Ansichten« ausgeht.

Wenn im 18. oder 19. Jahrhundert jemand in einer der damaligen Rotunden herumging, lieferte ihm sein Herumgehen quasi einen natürlichen Rundumeindruck. Im Falle der Kumpf’schen Bilder, die wir hier um uns haben, ist das allerdings nicht mehr der Fall, denn was früher ein eindimensionales Bild in einem dreidimensionalen »Rundum« war, ist heute ein entrolltes, glattgestrecktes Rundum, das seinem ursprünglichen Namen so recht nicht mehr entsprechen will.

Hat heutige Faszination möglicherweise mit genau dieser Irritation zu tun, die dadurch ausgelöst wird, das wir etwas sehen, was wir genaugenommen nicht sehen, wenn wir bewegungslos geradeausblicken und Dinge wahrnehmen, von denen uns unser Verstand sagt, dass sie eigentlich hinter uns liegen?

Könnte sein, dass in einer Zeit, in der die Dinge immer komplexer und die Welt somit immer undurchschaubarer wird, wir uns nach einem vermeintlichen »Rundumblick« sehnen und diese Panoramen deshalb mögen??
Ich kann Ihnen diese Fragen leider nicht hinlänglich beantworten. Ich weiß es nicht

Was ich allerdings weiß, ist, dass Werner Kumpf dieses Spiel mit der Irritation noch um einige Schritte oder Drehungen weitertreibt. Wo der normale 360°-Panoramist aufhört, wo er nach exakt 360° nämlich seinen Auftrag als erfüllt ansieht und abbricht, macht Kumpf noch längst nicht Schluss, was dazu führt, dass wir nochmals irritiert werden.

Sprich: Werner Kumpf läßt es nicht damit getan sein, dass wir auf Dinge blicken, die gleichzeitig vor wie hinter uns sind, er verwirrt uns zusätzlich mit einem »Dejávu«, weil er - über die 360° hinausgehend - natürlich abermals in sein anfängliches Szenarium zurückkehrt. Wobei er uns - Irritation dritten Grades - völlig um den Verstand zu bringen droht, wenn sich etwa bei 400° in der gleichen Szenerie etwas verändert hat, weil inzwischen Zeit verflossen ist: Sehr gut nachzuempfinden in seinem Panorama vom Darmstädter Hauptbahnhof.

Vollends im wahrsten Sinne des Wortes »ver-rückt« freilich wird es dort, wo Kumpf die bis dahin gewohnte Horizontale verlässt und seine Roundshotkamera um einen vertikalen Nodalpunkt bewegt.

Wenn er wie in seinem Vertikalpanorama vom »Haus der Geschichte« auf den Turm des Hessischen Landesmuseums schaut und der Blick über die Unterseite vom Portikus des Staatsarchivs hinauf (oder hinunter?, wer weiß das schon so genau) zum Pflaster des Platzes schwingt und wieder zurück, dann glaubt man sich unvermittelt in einem virtuellen Riesenrad und begreift, warum man schon in der Frühzeit der Geschichte der Panoramen solche Bilder wahrgenommen hat, wie »herabgerutschte, barocke Deckengemälde«

So trägt Kumpf bei all der Panoramenflut wohl auf eine eigenständige Weise mit dazu bei, dass die bemerkenswerte Wirkung der Panoramen auch weiterhin ungebrochen erhalten bleibt. Ich will den seltsamen Faszinationsfaden jetzt auch gar nicht mehr weiterspinnen. Aber ich wünsche Werner Kumpf und seinen Panoramen jenes Glück, das der Panoramenerfinder Robert Barker hatte: Der hat schließlich aus seiner Idee vor rund zweihundert Jahren ein nicht unbedeutendes Vermögen gemacht.

Horst Dieter Bürkle ist Geschäftsführender Vorstandssprecher der Darmstädter Sezession
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